Für die Werbung und auch die gutbürgerliche deutsche Küche spielen auch sie neben dem Fleisch noch immer eine große Rolle: Milch und Milchprodukte. Doch sind sie wirklich unentbehrlich für eine gesunde Ernährung? Das Magazin tierrechte befragte den renommierten Ernährungswissenschaftler und Biochemiker Prof. Dr. Claus Leitzmann in der Ausgabe 2.08.
tierrechte: Herr Prof. Leitzmann, mittlerweile ist es gesellschaftlich und auch wissenschaftlich anerkannt, dass eine vegetarische, vollwertige Ernährung vorteilhaft für die Gesundheit ist. Die vegane Ernährung - also völlig ohne Produkte oder Erzeugnisse vom Tier - stößt aber derzeit noch auf große Skepsis. Was sagen Sie auf die Frage: Braucht der Mensch Eiweiß vom Tier, um seinen Eiweißbedarf zu decken?
Claus Leitzmann: Eindeutig NEIN. Bei der Eiweißversorgung kann sich auch ein Veganer sicher fühlen, dass er die empfohlene Menge an Eiweiß aufnimmt, das sind 0,8 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht, also etwa 50 Gramm Eiweiß pro Tag. Wenn die vegane Ernährung nicht ganz einseitig ist, was leider auch vorkommt, dann liefert eine rein pflanzliche Kost ausreichend Eiweiß, da es in allen Lebensmitteln vorhanden ist, besonders in Getreide, Nüssen und Hülsenfrüchten. Die derzeitige durchschnittliche Eiweißaufnahme unserer Bevölkerung liegt über 100 Gramm pro Tag, also doppelt so hoch wie erforderlich. Diese Eiweißmast ist für den bewegungsarmen Wohlstandsbürger eher nachteilig.
tierrechte: Allgemein wird uns Milch als natürliche, gesunde Nahrung »verkauft«. Wie ist ihre Beurteilung?
Claus Leitzmann: Milch und Milchprodukte enthalten eine Reihe wichtiger Nährstoffe wie Kalzium und die Vitamine B2 und B12, aber Milch ist nicht lebensnotwendig. Milch kann durch andere Lebensmittel ersetzt werden, wie in Ländern ohne Milchwirtschaft und Verzehr von Milchprodukten dokumentiert ist. Essenzielle Nährstoffe wie Kalzium und die Vitamine B2 und B12 können in ausreichender Menge mit anderen Lebensmitteln aufgenommen werden. Außerdem gibt es Menschen, die den Milchzucker nicht vertragen - bekannt als Laktoseintoleranz - oder die allergisch auf Milcheiweiß reagieren. Diese Menschen müssen den Verzehr von Milch und Milchprodukten ohnehin meiden.
tierrechte: Hat pflanzliches Eiweiß gegenüber dem Eiweiß vom Tier Vorteile?
Claus Leitzmann: Ja. Erstens wirkt sich pflanzliches Eiweiß bei gleich hoher Verzehrsmenge wie tierisches Eiweiß bei bestimmten Krankheiten und Stoffwechselvorgängen unproblematischer aus. Zweitens ist pflanzliches Eiweiß im jeweiligen Lebensmittel mit deutlich geringeren Mengen an problematischen Substanzen, wie z. B. mit Cholesterin, verbunden.
tierrechte: Immer wieder wird angeführt, dass das lebensnotwendige Vitamin B12 nur in Nahrungsmitteln vom Tier vorkommt und Vegetarier wie Veganer Mangelerscheinungen bekämen. Wie sind Ihre Erkenntnisse?
Claus Leitzmann: Vitamin B12 wird nur von Mikroorganismen, wie Bakterien, hergestellt. Dies erfolgt auch im Körper von Tieren und somit gelangt B12 in Nahrungsmittel wie Fleisch, Eier und Milch. Pflanzliche Lebensmittel können geringe Mengen an Vitamin B12 enthalten, wenn sie mit Bodenbakterien in Kontakt kommen, z. B. Wurzelgemüse, oder wenn sie fermentiert werden wie beispielsweise Sauerkraut. Der weitaus größte Teil und oft das gesamte Vitamin B12 aus diesen Quellen kann allerdings für den Menschen ungeeignet sein, weil es viele Formen des Vitamins gibt, die für Bakterien und manch andere Lebewesen wirksam sind, nicht aber für den Menschen. Vitamin B12 wird zwar auch im Dickdarm des Menschen von Bakterien gebildet, da aber die Resorption im Dünndarm stattfindet, kann der menschliche Körper es nicht nutzen.
Veganer haben oft einen sehr kleinen Vitamin B12-Vorrat oder sind auch unterversorgt. Ein gezielter Verzehr von fermentierten Produkten aus Soja, Hefe und bestimmten Algen kann einen begrenzten aber ungewissen Beitrag zur Vitamin B12-Versorgung leisten. Veganer, die sich einseitig ernähren oder einen festgestellten Vitamin B12-Mangel aufweisen, sollten zumindest vorübergehend ein Nahrungsergänzungsmittel nehmen.
tierrechte: Aus Angst vor Mangelerscheinungen greifen nicht nur Vegetarier und Veganer zu solchen Nahrungsergänzungsmitteln, Vitamin- und anderen Präparaten. Ist dies nötig oder bestehen dabei vielleicht auch Gefahren?
Claus Leitzmann: Es ist bekannt, dass besonders die bereits gesundheitsbewussten Menschen, zu denen viele Vegetarier zählen, am ehesten zu Nahrungsergänzungsmitteln greifen, um »ganz sicher zu sein«. Bei einer ausgewogenen vegetarischen Kost sind Nahrungsergänzungsmittel nicht erforderlich, bei Veganern kann Vitamin B12 und manchmal auch Eisen ein Problem sein. Bei einem festgestellten Mangel sind wir dankbar, dass es diese Produkte gibt, die schnell Abhilfe schaffen, aber nicht auf Dauer eingenommen werden müssen. Selbstmedikation kann problematisch sein, da sich die isolierten Nährstoffe gegenseitig an der Resorption, d. h. an der Aufnahme aus dem Darm, behindern können. So kann Kalzium die Resorption von Eisen und Eisen die Resorption von Zink beeinträchtigen.
tierrechte: Sie haben über viele Jahre Forschung zur Ernährungsweise des Menschen betrieben. Wie beurteilen Sie die vegane Ernährung?
Claus Leitzmann: Die Erkenntnisse der Wissenschaft, inklusive unsere eigenen Untersuchungen, zeigen, dass eine ausgewogene vegetarische Kost gegenüber der üblich praktizierten Mischkost erhebliche Vorteile bietet. Fast alle medizinischen Indikatoren liegen günstiger. Auch wenn weitestgehend vegetarisch lebende Menschen einmal pro Woche Fleisch verzehren, wie viele der von uns untersuchten Vollwertköstler, verbessern sich die Werte.
Vegane Ernährung ist ausreichend, wenn eine vielseitige pflanzenbasierte Kost verzehrt wird. Definitiv besser ist sie aus ethischer, moralischer und ökologischer Sicht. Aus gesundheitlicher Sicht sollten vegane Ernährungsformen langfristig nur von Menschen praktiziert werden, die über gute Ernährungskenntnisse verfügen und sich der möglichen Problempunkte bewusst sind - was ja auch überwiegend, aber nicht immer der Fall ist. Es sind die schlecht beratenen Veganer, die für den teilweise schlechten Ruf der Veganer verantwortlich sind, da sie meist mit ihren Kindern beim Arzt wegen Mangelerscheinungen vorstellig werden. Die Medien stürzen sich auf diese seltenen Fälle, aber ignorieren den Normalfall, nämlich dass täglich Tausende von Fleischessern an ernährungsbedingten Krankheiten sterben.
tierrechte: Herr Professor Leitzmann, vielen Dank für Ihre Auskünfte.
Das Interview führte Stephanie Elsner.
Prof. Dr. Claus Leitzmann ist Biochemiker und Ernährungswissenschaftler, Experte für internationale Ernährung, Vollwert-Ernährung, Vegetarismus und Ernährungsökologie. Seit 1974 ist er am Institut für Ernährungswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig, seit 1998 emeritiert. Zudem ist er Autor vieler Bücher.
Das Interview ist erschienen in der Zeitschrift tierrechte.